PIECES FOR LIGHT AND CHANCE – Kritik aus Tanzjournal 03/03

von Helmut Ploebst

KOMPLEXER DIALOG
Julyen Hamilton, Christian Reiner, Wolf Wondratschek und ihre Pieces for Light and Chance

Entspannt sitzt der Schriftsteller auf der Bühne in einem Lichtkegel und liest aus seinem Buch: „Sie standen mit beiden Beinen auf der Straße. Die Bewegungen des Herrn entsprachen offenbar den Vorstellungen der Dame, jedenfalls konnte man das den Bewegungen der Dame entnehmen.“ Der Lesende, Wolf Wondratschek, schraubt seine Worte mit metallkalter Stimme in den Raum. „Die Dame hatte ein Bein schräg gestellt, das andere Bein der Dame war in der Haltung des Weitergehens auf ihrem Vorderfuß verharrt.“ Ein angespanntes Frösteln überzieht das Publikum, denn „mit der Zungenspitze berührte die Dame das Gesicht des Herrn“. Julyen Hamiltons und Christian Reiners Improvisation Pieces for Light and Chance im Tanzquartier Wien wird von der spröden Beschreibung eines anonymen intimen Akts aus Wondratscheks Oktober der Schweine (1972) eingeleitet. Der Text bereitet ein Feld auf, das, sobald der Autor sich von der Bühne zurückgezogen hat, in ein phantomdurchhuschtes Fastdunkel versinkt. Langsam einsickerndes Licht legt die Figuren des englischen Tänzers und des deutschen Sprachkünstlers frei, in deren Mitte langsam eine Lichtscheibe aufglüht,

Die beiden beginnen mit einer Tanz-und-Sprech-Improvisation, die in der Bewegung von Hamilton, in der Verbalität von Reiner getragen wird. Tanz- und Sprachphasen werden ineinandergeschoben, die Wortimprovisation arbeitet lautpoetischen Methoden, die „Real Time Composition“ (um einen Begriff von Joao Fiadeiro zu entlehnen) Hamiltons meist aus der Vertikale, mit Drehungen und weiten Gesten, die von Reiner mit kleinem Gestikulieren erwidert werden. Der Lichtdesigner Svante Grogarn komponiert die Bodenbeleuchtung von der blauen Fläche in ein Gelb, zieht schmale Streifen in ein violettes Feld, verteilt helle Quadrate im Blau, moduliert Licht und Schatten und stellt die Tänzer so auf einen transistorischen grund, der Bewegung und Worte trägt wie eine oszillierende WAsserhaut, die sich einmal in eine Kristallfläche, dann wieder in abgründiges Dunkel verwandelt. Hamilton reagiert auf die akkustischen Impulse des deutsch formulierenden Soundpoeten mit einem schier unermesslichen Repertoire an Bewegungsmustern, unterbricht, setzt neu an, antwortet zuweilen auf Englisch, das weich an die harten Vokalbegriffe des Deutschen schwappt.

Beide Improvisierer sind während der Aufführung am 4. April 2003 – und nur diesem Abend kann die vorliegende Besprechung von Pieces for Light and Chance gelten – in Hochform. Tanz- und Sprachfluß schwingen zwischen meistehaften Miteinander und widerstrebendem Auseinandergeraten. Das Wort, im Theater oft ein Parasit des Körpers, der diesen verdeckt und zum „Lautsprecher“ verkümmern läßt, verästelt sich hier in den Tanz und die Gesten der beiden. Nicht einen Augenblick kommte es zum Ansetzen einer kohärenten Erzählung, aber Hunderte Geschichtenfetzchen flattern auf der Bühne und lösen sich auf, immer wieder strukturiert durch abstrakte Lautmalerei und Bewegungskonstrukte. Der komplexe Dialog zwischen Hamilton und Reiner ist kraftvoll, immer wieder blitzt Humor auf, Sätze werden unterbrochen, Wortgebäude lösen sich in Lauttrümmer auf. Die Performance des Texts folg choreographischen Plänen.

Bei Pieces for Light an Chance könnte auch ein Scheitern des Dialogs interessante Konsequenzen nach sich ziehen, weil das Grundkonzept der Arbeit solide fundiert ist. Die Lesung Wondratscheks als fixierte Erzählung und das improvisierte Zwiegespräch als offene Form jedenfalls waren an diesem Abend sinnvoll aneinandergeknüpft und ergaben eine von der ersten bis zur letzten Minute mitreißende Vorführung.

(Helmut Ploebst, Tanz Journal 2003)

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